Human Rights Talk „Unerwünschte Erinnerung an Stalins Repressionen – Menschenrechte, Machtpolitik und historische Narrative“
Expert:innen und Nachfahren Betroffener diskutierten zum kollektiven Gedächtnis Russlands, unterdrückter Erinnerungskultur und den Implikationen für die russische Innen- und Außenpolitik im Meerscheinschlössel an der Universität Graz.
In ihren Eröffnungsreden betonten Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz, Michael Lysander Fremuth, Joachim Reidl und Elvira Welzig, welche zentrale Rolle Geschichte und Erinnerung nach wie vor für machtpolitische Realitäten spielen, so Barbara Stelzl-Marx “Die Vergangenheit als tickender Seismograph, der Erinnerungen auslöscht.”
In seiner Keynote-Rede sprach Nikita Petrov von einem Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung und der kollektiven Erinnerung. Dieser Wandel geht weg vom Großen Terror Stalins als einem Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung und hin zu einer Art Naturkatastrophe. Für ihn bildet das gegenwärtige Verhältnis der russischen Bevölkerung zu Stalin und ihrer eigenen Geschichte „zunehmend einen Fall des Stockholm-Syndroms“.
Die anschließende Panel-Diskussion, moderiert von Wolfgang Mueller, legte verschiedene Perspektiven auf Stalins repressives Erbe dar: Anna Graf-Steiner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, sprach über die aufkommenden Menschenrechtsdiskussionen im Zuge des Helsinki-Prozesses in den 1960er und 1970er Jahren sowie die Rolle, die Einzelpersonen wie Brezhnev oder Kreisky in diesen spielten sowie die Wirkmacht der beteiligten Diplomat:innen und verband sie mit Narrativen der Gegenwart. Pavel Kogan berichtete über seine eigenen Erfahrungen als russischer Aktivist sowie über die laufenden Bemühungen seiner Organisation Memorial Friends Austria, Gedenkstätten für Opfer stalinistischer Repressionen zu errichten und zu bewahren. Mit Eindringlichkeit und Empathie erzählte Sofiya Lipenkova die leidvolle Geschichte der eigenen Familienmitglieder im Stalinismus und ihre aktiven Versuche, diese Erinnerungen zu bewahren. Anatoly Reshetnikov gab einen Einblick in seine Forschungsarbeit, die (Diskurs-)Analyse von russischen Schul- und Lehrbüchern, in welchen ein deutlich wahrnehmbarer Rückgang oder gar gänzliches Verschwinden von Themen wie dem „Gulag-System“ oder dem „Großen Terror“ zu beobachten ist.
Die gesamte Veranstaltung machte letztlich eines deutlich: Erinnern und Nichtvergessen ist nicht nur in Bezug auf die russische Vergangenheit zentral, sondern bleibt wesentlich für alle Gesellschaften, denn man kann nur Lehren ziehen aus dem, was man nicht vergisst.