08 Mai 2023 von lbik

„Gedenken ist kein leeres Ritual“ – Festrede von Barbara Stelzl-Marx im Bundeskanzleramt zur Befreiung 1945

Die Fest- und Gedenkrede der Historikerin ist in der TV-Thek nachsehbar

Die Folgen des brutal geführten Zweiten Weltkrieges haben sich „eingebrannt in die Biografien, in die Landschaften“. Das sagte die Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Barbara Stelzl-Marx, beim „Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa“ am 8. Mai 2023 im Bundeskanzleramt. Mit ihrer live auf ORF2 übertragenen Fest- und Gedenkrede zum 78. Jahrestag dieser „Zeitenwende“ schloss die Zeitgeschichte-Professorin an der Uni Graz an die Beiträge von Vizekanzler Werner Kogler und Bundeskanzler Karl Nehammer an.

Mit Blick auf den laufenden russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eröffnete Stelzl-Marx mit einem Zitat der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk in Wien: „Friede war immer eine Pause dazwischen.“ Eigene Familienerinnerungen zitierend, skizzierte die Kriegsfolgenforscherin nicht nur die dramatischen Ereignisse gegen Kriegsende und die herausfordernde Wiedererrichtung der Demokratie im besetzten Österreich. Vielmehr rief sie auch die in der „Moskauer Deklaration“ (1943) festgehaltene Mitverantwortung unseres Landes für die Teilnahme am und die Verbrechen im Krieg sowie an den „Endphaseverbrechen“ und dem „Holocaust vor unserer Haustür“ in Erinnerung. Und: „Das NS-Regime brach nicht von innen heraus zusammen, sondern wurde militärisch besiegt – am 8. Mai.“ Ebenso betonte die Historikerin: „Gedenken ist kein leeres Ritual“.

Stelzl-Marx arbeitete in Folge die politischen Nachkriegserfolge der wieder erstandenen Republik heraus und betonte die Symbolhaftigkeit der ersten freien Wahlen nach dem Krieg im November 1945, sensibilisierte dabei die aber auch für die schwierige Rolle der Kinder des Krieges – aus der Not heraus wurde in der Nachkriegszeit etwa „homeschooling“ betrieben – sowie für die Frauen, die hundertausendfach Opfer von sexueller Gewalt wurden. Die in einem laufenden Forschungsprojekt untersuchten Verstrickungen von österreichischen Polizisten in das NS-Regime fanden ebenfalls Erwähnung. All dies gelte es zu erforschen, in Erinnerung zu behalten und etwa durch Interviews zu dokumentieren. Der „Nationalsozialismus hat tief in jede einzelne Familie hineingespielt“, so Stelzl-Marx. „Verantwortung zu übernehmen war 1945 ein Thema und ist es auch heute.“

„Stelzl-Marx“, so der ORF in einem kurzen Bericht, meinte, „man stehe heute wieder an einer Zeitenwende. Der Blick zurück solle dazu führen, wachsam zu bleiben und Demokratie, Freiheit und Achtung der Menschenrechte nicht als selbstverständlich zu sehen.“ Am Ende griff die BIK-Leiterin das kriegsbiografische und literarische Motiv der Pause noch einmal auf und zitierte eine junge Frau aus Charkiv, die nun in ihrer Nachbarschaft wohnt: „Mein Leben ist nicht vorbei, es ist nur für eine Weile unterbrochen.“ Stelzl-Marx schloss den von Danielle Spera moderierten Festakt mit den Worten: „Ich hoffe auf eine baldige Pause, auf eine möglichst lange Pause dazwischen.“

Bericht der Uni Graz

Die Rede in der TV-Thek ansehen
a. v.l.: Bundeskanzler K. Nehammer, Moderatorin D. Spera, B. Stelzl-Marx, Vizekanzler W. Kogler Foto: (c) privat