„Die Täterthese ist ein Mythos“ – Österreicher im Nationalsozialismus
Hat Österreich – wie oft in TV-Dokumentationen und auflagenstarken Geschichtsbüchern behauptet – während des Nationalsozialismus verhältnismäßig mehr NS-Täter als Deutschland hervorgebracht? Der Zeithistoriker Kurt Bauer (am Bild) hat sich dieser geschichtspolitisch umstrittenen Frage gestellt.
Die Antworten, die er in seiner jüngsten Studie gefunden hat, fallen differenziert aus: Nein, ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Österreichern an den NS-Tätern ist, so Bauer, nicht nachweisbar. Die „Täterthese“ ist für ihn ebenso wie die wissenschaftlich längst widerlegte „Opferthese“ nicht haltbar. Die Schuld, die die österreichische Gesellschaft in dieser Zeit auf sich geladen hat, bleibt jedoch aufrecht.
Zahlen widerlegen „Täterthese“
Bisher auch in Forschungsarbeiten kolportierte Zahlen, wonach etwa 40% der Besatzung der nationalsozialistischen Vernichtungslager und 14% sämtlicher SS-Leute Österreicher gewesen seien (bei einem Bevölkerungsanteil der „Ostmark“ am Deutschen Reich von 8,8%) entbehren einer faktischen Grundlage, so Bauer, der für die Uni Graz in Kooperation mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung seit 2019 an diesem von Barbara Stelzl-Marx geleiteten und vom Zukunftsfonds der Republik geförderten Projekt geforscht und nun auch konkrete Zahlen vorgelegt hat: Die Anzahl der „ostmärkischen“ NS-Parteimitglieder entsprach demnach ziemlich genau dem Bevölkerungsanteil Österreichs am Großdeutschen Reich; waren etwa 14,9% – also mehr als der Bevölkerungsdurchschnitt – der Höheren SS- und Polizeiführer Österreicher, so hat der Anteil von Österreichern im allgemeinen SS-Personal in den Konzentrationslagern laut Bauer „nur“ 4,7% ausgemacht. Auch die weiteren Ergebnisse des Projekts zeichnen ein Bild, das trotz einiger statistischer Schwankungen nah am „großdeutschen Durchschnitt“ liegt.
NS-Aufarbeitung weiterhin nötig
Österreicher, so resümiert der Studienautor daher, waren insgesamt nicht stärker an Nazi-Massenverbrechen beteiligt als Deutsche („Altreichsdeutsche“): „Wie die offizielle Opferthese ist auch die inoffizielle Täterthese ein Geschichtsmythos.“ Gleichwohl unterstreicht Bauer, dass NS-Täter in der Republik Österreich mit wesentlich weniger Nachdruck verfolgt wurden als in der Bundesrepublik Deutschland und es in unserem Land (zu) lange gelungen ist, die Mitverantwortung und Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen zu „externalisieren“. Am moralischen Auftrag, diese dunklen Jahre als österreichische Gesellschaft weiter aufzuarbeiten, ändert sich demnach nichts.
Artikel im Standard und im Kurier über das Projekt
Factbox
Titel: „Wie hoch war der Anteil von Österreichern an den nationalsozialistischen Tätern?“ – zur Projektbeschreibung
Fördergeber: Zukunftsfonds der Republik Österreich (Projekt-Nr. P19-3671)
Institution: Institut für Geschichte der Universität Graz in Kooperation mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, Graz – Wien – Raabs
Projektleitung: Univ.-Prof. Dr. Barbara Stelzl-Marx, Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung
Projektausführung: Dr. Kurt Bauer, assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte an der Universität Graz und des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung
Projektlaufzeit: November 2019 bis Dezember 2021
Der Autor steht für Interviews, nähere Erläuterungen, Rückfragen etc. gerne zur Verfügung:
Tel.: 0680/202 62 49; E-Mail: x_onhre@nba.ng