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13 Mrz 2023 von lbik

Ein Kaleidoskop der NS-Zwangsarbeit in Graz – Pressekonferenz

Wer waren die in der NS-Zeit nach Graz verschleppten Zwangsarbeiter, woher stammten sie? Wo kamen sie zum Einsatz? Wo befanden sich die Lager, in denen sie untergebracht waren? Im Vorfeld des sich zum 85. Mal jährenden „Anschlusses“ Österreichs an NS-Deutschland präsentierte das Forschungsteam im Pressegespräch im GrazMuseum Antworten, Daten und Fakten zu diesen Fragen.

15.000 Menschen an 700 Orten

„Was wir jetzt zum ersten Mal haben, ist ein Kaleidoskop der Zwangsarbeit in Graz während der NS-Zeit von mehr als 15.000 Einzelschicksalen. Man kann genau sagen, woher stammen diese Menschen, wie alt waren sie, als sie nach Graz verschleppt wurden, und in welchen Lagern waren sie untergebracht“ – das sagt Institutsleiterin und Univ. Prof. Barbara Stelzl-Marx von der Universität Graz bei der Pressekonferenz  zum Forschungsprojekt über die NS-Zwangsarbeit in Graz. „Die Ergebnisse“, so der ORF, „sind erstaunlich detailliert und werden den Nachfahren der Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter zugänglich gemacht.“ Die Gastgeberin des Pressegesprächs, Geschäftsführerin Sybille Dienesch vom GrazMuseum, sieht darin auch einen „weiteren Schritt zur Aufarbeitung der NS-Zeit“.

Während des Zweiten Weltkrieges kamen rund 580.000 zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus beinahe allen Gebieten Europas auf das Gebiet des heutigen Österreichs, so auch nach Graz, wo sie an über 700 Orten in Graz untergebracht waren. Sie bildeten ein entscheidendes Rückgrat der NS-Kriegswirtschaft. Über den Einsatz dieser Menschen (im NS-Jargon „Fremdarbeiter“)  führten die nationalsozialistischen Meldebehörden penibel Buch, registrierten die wesentlichen Daten zur Person und zu ihrem Aufenthalt im „Dritten Reich“.

Schicksale werden sichtbar

Die Meldekarteien zur NS-Zwangsarbeit in Graz – aufbewahrt im Grazer Stadtarchiv – konnten nun im Rahmen eines Forschungsprojektes des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und der Universität Graz erstmals in Form einer Datenbank erschlossen und ausgewertet werden. Die 15.304 Einträge zu den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Graz zeigen, dass die meisten aus Italien und Russland stammten, gefolgt von Frankreich, Kroatien und der Ukraine. Rund ein Drittel war zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung jünger als 20 Jahre. Sie arbeiteten in der Grazer Rüstungsindustrie wie Steyr-Daimler-Puch, in der Landwirtschaft oder in privaten Haushalten. Ihre Unterbringung erfolgte in einem Netz von Lagern und lagerähnlichen Einrichtungen, das die gesamte Stadt überzog und nun im Detail dargestellt werden kann. „Stillgestanden. 15 Peitsche. Alle schlafen, los. 2 Uhr Kniebeuge“ – diese Tagebucheinträge des Zwangsarbeiters Ivan Anosov stehen laut Stelzl-Marx stellvertretend für über 15.000 weitere Schicksale. Wie die APA berichtet, war „er mehrfach im Lager Liebenau untergebracht und verfasste dort auch ein handschriftliches Wörterbuch mit deutschen Vokabeln, um sie für andere Zwangsarbeiter auf Russisch zu übersetzen.“ Wie die Universität Graz berichtet, waren „ein Drittel der Verschleppten Teenager“.

Projektkoordinator Martin Sauerbrey-Almasy, der herausarbeitet, dass „hinter jeder Karteikarte ein Mensch steht“, weist auch darauf hin, dass die Erschließung eines derartig umfangreichen Bestands zu Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im deutschsprachigen Raum de facto einzigartig ist. Die Daten können (familiär) betroffenen Personen, oder im Rahmen eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes zugänglich gemacht werden. Kultur- und Wissenschaftsstadtrat Günter Riegler (ÖVP) wies im Vorfeld bereits auf die gedächtnispolitische Dimension dieses Projekts hin und betont beim Pressegespräch auch die finanzielle Unterstützung durch die Stadt Graz – der als Fördergeberin eine Kopie der Datenbank überreicht wurde.

150 Kinder geboren

Aus der Datenbank geht weiters hervor, dass mindestens 150 Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Graz geboren wurden und ihre ersten Lebensjahre im Lager verbrachten. Manche wissen bis heute nicht, wer ihre Eltern waren. Auch 78 Todesfälle wurden in den Meldekarteien registriert. Insgesamt können nun genauere Rückschlüsse über das Leben in den Lagern gezogen werden. So waren beispielsweise die Baracken – je nach Nationalität – unterschiedlich belegt. Des Weiteren bekommt man Aufschluss über die tatsächlichen Belegzahlen, die Verweildauer und das Alter der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Der Großteil der betroffenen Menschen war zwischen 15 und 40 Jahren alt.

Über das Projekt:

Das Forschungsprojekt wurde am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung in Kooperation mit dem Institut für Geschichte der Universität Graz und dem Graz Museum/Stadtarchiv Graz durchgeführt.

Allgemeine Rückfragen zum Projekt: ovx-tenm@ovx.np.ng
Rückfragen für Betroffene und Forschende zur NS-Meldekartei im Grazer Stadtarchiv: fgnqgnepuvi@fgnqg.tenm.ng

Projektleitung: Barbara Stelzl-Marx
Projektkoordination: Martin Sauerbrey-Almasy
Projektmitarbeit: Theresa Reinalter, Tabitha Pfleger, Andreas Hiess, Mirella Pemberger, Simon Ullrich, Gregor Diez, Noah Westermayer, Martina Schneid
Fördergeber: Stadt Graz (Kulturamt), Fördergeber des Vorprojekts: Zukunftsfonds der Republik Österreich, Land Niederösterreich
Laufzeit: 2021–2023

a. Meldekarteien (c) Stadtarchiv Graz
b. Ivan Anosov (c) BIK
c. Karte zur Zwangsarbeit (c) BIK
d. Bei der Datenübergabe, v. l.: M. Sauerbrey, B. Stelzl-Marx, Stadtrat G. Riegler, GF S. Dienesch (c) GrazMuseum